Betreuung von HIV1-exponierten Neugeborenen
In Deutschland werden jährlich 200-250 Kinder HIV1-positiver Schwangerer entbunden.
Übertragungszeitpunkt:
HIV1 kann während der Schwangerschaft, während der Geburt und durch Stillen von der Mutter auf ihr Kind übertragen werden. Eine Ansteckung des Kindes in der Frühschwangerschaft ist sehr selten. Beginnend ab der 30. Schwangerschaftswoche (SSW) nimmt die Häufigkeit der Transmission von HIV1 bis zur Geburt langsam zu. Die höchsten HIV-1-Übertragungsraten sind kurz vor - und während der Geburt festgestellt worden. Auch Stillen birgt für ein Kind einer HIV1-positiven Mutter ein hohes Ansteckungsrisiko. Aus der Muttermilch einer solchen Mutter können sowohl freies HI-Virus1 als auch HIV1-infizierte Lymphozyten isoliert werden. Zu Beginn des Stillens wird das Neugeborene noch zusätzlichen HIV1-Viren ausgesetzt, was das HIV1-Ansteckungsrisiko erhöht: Hier spielen zum einen die höhere Menge an HI-Viren in der sogenannten Vormilch zum anderen die beim initialen Stillen häufigeren Einrisse der Brustwarze mit Blutungen und die häufigeren Brustentzündungen eine Rolle. Mit der Dauer des Stillens erhöht sich entsprechend das HIV1-Infektionsrisiko.
Übertragungsraten (ohne medizinische Maßnahmen zur Verhinderung der vertikalen HIV-1-Transmission):
Ohne jegliche Maßnahmen zur Vermeidung der Mutter-Kind-Transmission von HIV1 werden bis zu 40% der Kinder HIV1-positiver Mütter mit HIV-1 angesteckt. Nach neuesten Studienergebnissen werden 7% der Kinder intrauterin, 18% kurz vor oder während der Geburt und 15% durch Stillen infiziert.
Verhinderung der vertikalen HIV-1-Transmission:
Grundvoraussetzung für die Vermeidung der Mutter-Kind-Transmission von HIV1 ist das Wissen um die HIV1-Infektion der Schwangeren. Daher ist in den Mutterschaftsrichtlinien zu Beginn der Schwangerschaft (nach Aufklärung und Einwilligung der Schwangeren) für alle Schwangeren in der Frühschwangerschaft ein HIV-Test empfohlen. Seit 2008 erinnert auch eine Spalte im Mutterpass sowohl den betreuenden Gynäkologen als auch die Schwangere an die entsprechende Aufklärung und Beratung (siehe auch die 2007 aktualisierte Mutterschaftsrichtlinie und das neu verfügbare Merkblatt für alle Schwangeren). Diese Testung auf HIV-1 in der Schwangerschaft kommt nicht nur dem Kinde zugute. Auch die Mutter und ebenso ein eventuell infizierter Vater können bei Diagnose einer HIV-1-Infektion frühzeitig behandelt werden - ihre Erkrankung wird nicht erst Jahre später bei schlechtem Immunstatus und dem Auftreten opportunistischer Infektionen diagnostiziert.
Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass bei Diagnose der HIV-1-Infektion der Mutter ein Großteil der Väter (bis 25%) noch nicht mit HIV1 angesteckt wurde, sodass deren HIV1-Infektion bei Diagnose der Partnerin also noch vermieden werden kann.
Leider ist vielen Frauenärzten immer noch nicht bekannt, dass die Krankenkassen dieses Screening der Schwangeren auf HIV1 zahlen. Der HIV-Test in der Schwangerschaft belastet zudem das Laborbudget der Praxis nicht, da die hier Vorsorge-Kennziffer angegeben werden kann!
Seit 1994 beträgt in den spezialisierten Zentren der BRD bei bekannter HIV1-Infektion der Schwangeren die Rate der vertikalen HIV1-Infektion nur noch 0,5-1%.
Diese niedrige Transmissionsrate wurde durch Kombination des amerikanischen Protokolls Aids-Clinical-Trial-Group (ACTG) 076 mit einer primären Sectio am wehenlosen Uterus erreicht. ACTG 076 beinhaltete die Therapie der HIV1-positiven Schwangeren mit Retrovir® oral, während der Geburt i.v. und des Neugeborenen 6 Wochen mit Retrovir® oral. Die Kinder dürfen nicht gestillt werden. Im Sommer 1998, im Mai 2001, im Mai 2003, im September 2005, im September 2008, im September 2011, im Mai 2014 und März 2017 wurde dieses Vorgehen in der BRD im Rahmen von interdisziplinären Konsensuskonferenzen weiter modifiziert/risikoadaptiert und an neueste Erkenntnisse angepasst. Die aktuellen Leitlinien (siehe https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/055-002.html/) enthalten neue Empfehlungen zur Therapieindikation, Beginn, Art und Nebenwirkungen der antiretroviralen Therapie bei HIV1-positiven Schwangeren. Das Vorgehen bei normaler Schwangerschaft aber auch bei Schwangerschaftsrisiken/-komplikationen wird genau spezifiziert. Es werden Empfehlungen auch zur Schwangerschaftsvorsorge bei HIV1-positiven Frauen und zur Kreißsaalversorgung und Nachsorge der HIV-1-exponierten Neugeborenen erläutert.
Zur Zeit wird folgendes Vorgehen empfohlen:
1 |
Risikoadaptierte antiretrovirale Therapie (ART) der Schwangeren: |
a) |
bei komplikationsloser Schwangerschaft und nicht sofort therapiebedürftiger HIV1-Infektion der Schwangeren (CD4 >350/µl) je nach Viruslast der Schwangeren:
Beginn antiretrovirale Dreifachtherapie/ART sofort oder falls klinisch vertretbar ab Schwangerschaftswoche (SSW) 13+0 (nach Organogenese) |
b) |
bei Therapiebedürftigkeit
- sofortiger Therapiebeginn der HAART oder
- wenn alternativ möglich Beginn ab SSW 13+0 wegen der Organogenese des Kindes |
c) |
bei Schwangerschaft unter laufender antiretroviraler Therapie Weiterführung derselben evtl. Therapiemodifizierung wegen
- Embryotoxizität einzelner Medikamente oder
- Therapieversagen einzelner Medikamente |
2 |
- Primäre Sectio am wehenlosen Uterus ab SSW 37+0
- bei HI-Viruslast unter Nachweisgrenze kurz vor Geburt und keinen geburtshilflichen Risiken evtl. vaginale Geburt |
3 |
- Am Tag der Geburt normale Einnahme der ART
- Nur bei Viruslast >50HIV-Kopien/ml: i.v. Therapie der Schwangeren mit Retrovir® ab 3h vor Sectio und während der Geburt |
4 |
adäquate Kreißsaalversorgung (siehe unten) |
5 |
risikoadaptierte Prophylaxe des Neugeborenen mit antiretroviralen Substanzen (siehe unten) |
6 |
Stillverzicht |
Ausführliche Erläuterungen zu Punkt 1-3 finden sich im Kapitel "HIV und Schwangerschaft"
Anhand des dargestellten Vorgehens ist zu erkennen, dass die Verhinderung der vertikalen HIV1-Transmission nur durch optimale interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen dem antiretroviral behandelnden Arzt der Schwangeren, Gynäkologen und Kinderärzten mit Erfahrung auf dem Gebiet der HIV1-Infektion möglich ist. Die Betreuung jedes HIV-exponierten Kindes erfordert neben gewissen logistischen Voraussetzungen (z.B. Fortbildung aller den Kreißsaal versorgenden Ärzte, Bevorratung der antiretroviralen Medikamente/Säfte!!! etc.) ein genaues Wissen über aktuelle Prophylaxe- und Therapiestandards und sollte daher immer in - (oder in enger Zusammenarbeit mit) einem spezialisierten Zentrum mit Erfahrung in der Betreuung HIV-exponierter Kinder erfolgen.
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